Frauen sind in der Wissenschaftsgeschichte kaum sichtbar, selbst das Schaffen von großen Pionierinnen ist visuell wenig oder gar nicht dokumentiert. In Darmstadt ist deshalb eine Ausstellung neuer Art zu sehen: Mittels KI-generierter fotorealistischer Bilder versucht die Fotografin und Wissenschaftskommunikatorin Gesine Born die Biografien von inzwischen verstorbenen Wissenschaftlerinnen und Künstlerinnen nachzuempfinden und so die Arbeit dieser Frauen zu würdigen.
In „Versäumte Bilder“ sehen wir eine Zoologin im Amazonas, eine Astronomin am Teleskop, eine Genetikerin tanzend auf einer Berliner Straße oder eine Biologin auf einer Blumenwiese.
Die KI-generierten Frauenbilder zeigen Situationen, die so oder ähnlich hätten stattfinden können – um das zu ersetzen, was historisch fehlt: Bildmaterial zu weiblichen Persönlichkeiten, die anders als ihre männlichen Kollegen selten Gegenstand von Aufmerksamkeit und medialer Berichterstattung waren.
Es werden 17 Frauen aus unterschiedlichen Disziplinen in Bild und Wort vorgestellt. Zu den Einzelporträts gibt es Texte, die von der KI-generierten Stimme Lise Meitners eingesprochen sind. Über Kopfhörer ist es möglich, dem Leben der Frauen zu folgen.
Die Ausstellung zeigt außerdem, wie die Bilder entstanden sind. Gesine Born hat die Motive mit dem KI-Bildgenerator Midjourney erzeugt, teilweise Originalportraits hochgeladen und zusätzlich Prompts geschrieben, in denen sie unter anderem die Szenerie beschreibt.
Können KI-Bilder Fotodokumente ersetzen?
Ich empfinde das Projekt zunächst als Bereicherung, weil ich außer Lise Meitner keine weitere der Persönlichkeiten kannte, und es teilweise niederschmetternd ist, wie sie übergangen wurden – dennoch beschäftigt mich die Frage, ob KI das richtige Medium ist, um den Frauen nachträglich zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen.
Das von Gesine Born gegründete Bilderinstitut, ein Organ für Wissenschaftskommunikation, ist offiziell Produzent der Ausstellung und begreift KI als „Möglichkeitsraum“, in dem auch eine „gewünschte Wirklichkeit“ transportiert werden kann. Aber ist jedes Mittel recht, Frauen in der Wissenschaft sichtbar zu machen? So fragt Gesine Born selbst auf ihrer Website.
Ich habe meine Zweifel. Sie lassen sich am besten am Beispiel von Lise Meitner festmachen. In der Ausstellung ist die Wissenschaftlerin als eine Art Femme Fatale zu sehen: Männerhaarschnitt, dunkel umrandete Augen, Dreiteiler. Sie ist untersichtig abgebildet, was sie leicht arrogant wirken lässt, die Zigarette schwebt seltsam unrealistisch in der Hand. Ich assoziiere eher eine avantgardistische Dada-Künstlerin als eine Wissenschaftlerin.
Wie sah Lise Meitner eigentlich aus? Dokumentiert ist, dass sie geraucht hat. Aber auch, dass sie ihre Haare hochsteckte und weibliche Garderobe trug, wie zu ihrer Zeit üblich. Außerdem wirkt sie auf allen historischen Aufnahmen zugänglich und freundlich, vom Erscheinungsbild also eher normal.
Ziel des Projekts sei es, „versäumte“ Situationen abzubilden, wie im Ausstellungstext angekündigt, „in stolzer Pose, bei Preisverleihungen, im Hörsaal oder auf der Baustelle“. Ist also eine so starke Interpretation wie bei Lise Meitner legitim? Und wie ist es bei den anderen Protagonistinnen, von denen es weniger Original-Bildmaterial gibt? Bei denen sich das KI-Erzeugnis noch stärker auf die Fantasie der Künstlerin und den Algorithmus des Programms stützt?
Midjourney phantasiert Technik
Ein weiteres Beispiel, das meinen Zweifel nährt: Kann ein Teleskop wie auf dem Bild der Astronomin Cecilia Payne-Gaposchkin funktionieren? Auch das ist fraglich. Ich arbeite mit Midjourney und weiß daher, dass das Programm bei technischen Geräten oft fantasiert. Mir sträuben sich die Haare bei der Vorstellung, dass die promovierte Astronomin vor einer Mischung aus einem Periskop und einem Filmprojektor steht.
Gesine Born entfernt sich allerdings teilweise auch ganz gezielt von der Realität, so im Fall von Rosalind Franklin. Zu sehen ist eine Frau in ihren 50ern oder 60ern, in der Hand hält sie eine Schatulle mit einer Nobelpreis-Medaille. In den 1960er Jahren war Rosalind Franklin allerdings bereits tot, sie starb 1958 mit 37 Jahren an Krebs, wie es im Text zum Bild steht. Born hat Rosalind Franklin sozusagen posthum und eigenmächtig den Nobelpreis verliehen.
Fiktion und Realität
Wo liegt der Mehrwert der KI-Bilder gegenüber historischen Fotos, denn einige, wenn auch wenige, gibt es?
Die unechten Bilder sind visuell ansprechender als graue Zeitdokumente, sie sehen schlicht besser aus. Es scheint so, als befände sich das Projekt „Versäumte Bilder“ damit auf einer Linie mit den Bemühungen der Filmbranche, immer ausgebufftere Effekte zu nutzen, um möglichst realistische Situationen zu simulieren und Rezipient*innen damit auch zu überrumpeln. So verschmelzen Realität und Fiktion immer mehr miteinander.
Ich fühle mich beim Betrachten der Bilder ein wenig, als würde Cleopatra in einer Multimedia-Show mit modernen Mitteln wiederbelebt. Wie nah die Bilder von Gesine Born der historischen Realität sind, ist offensichtlich nicht so wichtig. Es scheint im Wesentlichen darum zu gehen, dass das Gesamtbild attraktiv ist und stimmig wirkt. Zu meinem Eindruck trägt ein wenig bei, dass die KI-Bilder schon etwas älter sind. Die Technik ist inzwischen fortgeschritten; die Bilder, die Midjourney heute erzeugt, sehen realistischer aus.
Man könnte also sagen, dass die Erkennbarkeit der Fiktion den Reiz von Borns Bildern ausmacht. Allerdings halte ich genau diesen Punkt nicht für tragbar: Mit jedem neuen Release von Midjourney wird es schwieriger zu erkennen, was ist real, was ist Fiktion? Das bedeutet, dass Betrachter*innen immer schwerer beurteilen können, ob das, was sie sehen, echt ist oder eben nicht.
Das Positive an Gesine Borns Ansatz ist, dass sie einen bewussten Umgang mit KI-generierten Bildern zu schaffen versucht. Sie macht klar, wie ihre Bilder entstanden sind und wie sie quasi durch ihre Prompts in die Realität eingegriffen hat. Dennoch: Die Kraft von Bildern sollte nicht unterschätzt werden. Menschen rezipieren visuell, das Bild ist meist mächtiger als das Wort, zumindest der erste Eindruck bleibt hängen.
Heroisierung im KI-Bild
Muss Lise Meitner visuell heroisiert werden, weil sie Großes geleistet hat, auch wenn sie vielleicht bieder aussah? Das Problem liegt im vermeintlich Dokumentarischen der Bilder. Die meisten Besucher*innen der Ausstellung werden annehmen, dass die gezeigte Person in etwa so aussah oder so wirkte. Doch gerade im Fall von Lise Meitner klaffen Original und Interpretation stark auseinander. Im Zweifel wird sie in Zukunft für einen burschikosen Vamp gehalten.
Im Grunde ist das KI-generierte Bild mit einem Biopic vergleichbar, bei dem die Lise Meitner-Darstellerin eine Perücke trägt und durch eine Kulisse spaziert. Auch vergleichbar ist, dass in den allermeisten Fällen die Biopic-Schauspielerin schlanker und attraktiver ist als die reale Person. Oder jünger. Den Betrachter*innen ist völlig klar, dass der Film eine Vorstellung vermittelt und das Setting aus der Kreativität der Filmschaffenden entstanden ist. Ob sich die Ausstellungsbesucher*innen von „Versäumte Bilder“ darüber klar sind, dass die KI stets idealisiert, meist indem sie Gesichtszüge harmonisiert und oft verjüngt? Die Problematik des Gender Bias von Bildgeneratoren wird in der Ausstellung zwar benannt, aber nur in einem speziellen Punkt. Das bewahrt die einzelnen Bildergebnisse nicht vor Idealisierungen, denn woher sollen die Betrachtenden wissen, ob eine Person, von der wenig Bildmaterial existiert, zierlich ist oder breit in der Hüfte? Ob sie eine gebogene Nase hatte oder früh ergraut ist? Die KI wird immer in Richtung normschön tendieren.
Ob also das Mittel fiktiver Dokumente und Ereignisse das richtige ist, um die Leben renommierter Wissenschaftlerinnen und Künstlerinnen ins Scheinwerferlicht stellen, ist für mich fraglich.
Immerhin hilft das allgemeine Interesse an KI, Menschen für das Thema zu interessieren, insofern sorgt das Projekt für Wahrnehmung. Und vielleicht liest ja die eine oder andere Besucher*in im Anschluss an die Ausstellung sogar ein Sachbuch mit historischen Abbildungen oder betreibt selbst Recherche.
Ausstellung in Darmstadt
Zu sehen ist die Ausstellung „Versäumte Bilder“ vom 7. bis 30. Juni 2024, jeweils freitags von 16 Uhr bis 20 Uhr und samstags und sonntags jeweils von 11 Uhr bis 18 Uhr, im Schader-Forum, Goethestraße 2, Darmstadt. Öffentliche Führungen finden ohne Voranmeldung am 15. und 29. Juni 2024, jeweils um 15 Uhr, statt.
Lesetipp: „Beklaute Frauen“
Die Historikerin Leonie Schöler porträtiert Wissenschaftlerinnen wie Lise Meitner und Rosalind Franklin, deren mitforschende Kollegen oder Ehemänner Ruhm und Ehre an ihrer Stelle eingeheimst haben. Penguin Verlag, 22,- Euro
Eva Häberle
Gastautorin
Seit mehr als 20 Jahren ist Eva Häberle freie Fotografin und beschäftigt sich seit dem Frühjahr 2023 mit generativer KI, praktisch wie theoretisch. Sie publiziert dazu, was die Nutzung von KI für die Branche und die Gesellschaft bedeutet, insbesondere in Bezug auf Rollen- und Gesellschaftsbilder.