Wenn ich durch Zeitschriften blättere oder über Onlinemedien scrolle, vermisse ich etwas, das in der Werbung oder in sozialen Netzwerken weit häufiger vorkommt als im Journalismus: dicke Körper. Meist werden sie nur gezeigt, wenn es um Übergewicht geht. Das Bild einer dicken Frau taucht neben einem Bericht über Dehnungsstreifen auf, aber sicher nicht in einer Fotostrecke zu den neuesten Modetrends für den Herbst. Das Bild eines dicken Mannes taucht höchstens in einem Artikel zum Oktoberfest auf oder sitzend am Bartresen einer einsamen Kneipe, aber nicht in einer Erfolgsstory.
Und genau das ist das Problem: Wenn dicke Menschen gezeigt werden, knüpft es oft thematisch an negativ konnotierte Themen an. Es sind Geschichten übers Scheitern, über Ausgrenzung, Krankheit. Die Kommentarspalten unter solchen Fotos und Artikeln zeigen schnell, was die allgemeine Meinung ist: Dicksein ist etwas Schlechtes und selbstverschuldet. Dabei sind zwei von drei Erwachsenen in Deutschland übergewichtig. Die Zahl der Menschen mit Adipositas ist dabei gestiegen: So liegt der Anteil bei 23 Prozent bei den Männern und 19 Prozent bei den Frauen. Eine von ihnen bin ich. Die Gründe dafür sind vielfältig und nicht einfach mit zu wenig Bewegung und zu viel Essen abgetan. Als adipöse Frau weiß ich, wie es sich anfühlt, nicht sichtbar zu sein. Es ist belastend.
Size Zero? Journalismus soll die Realität abbilden!
Warum werden Bilder von dicken Menschen nicht für andere Themen genutzt, wie beispielsweise Karriere oder Familie? Warum ist es nicht selbstverständlich anzuerkennen, dass alle Körperformen zu unserer Gesellschaft gehören? Warum müssen wir Gewicht immer zum Thema machen, sobald wir es abbilden? Die Antwort ist recht einfach: Die meisten Redaktionen arbeiten mit Bilddatenbanken, in denen fast alle Stockfotomodels dünn sind. Die Auswahl ist begrenzt und so weit von Diversität entfernt, wie die Menschen von einem Umzug auf den Mars.
Auf Social Media sieht das anders aus. Dort gibt es immer mehr Frauen, die sich so zeigen, wie sie sind. Sie machen sichtbar, wie unsere Gesellschaft wirklich aussieht. Diese Vorbilder bei Instagram oder TikTok sind wichtig, denn je mehr wir uns daran gewöhnen, dicke Körper zu sehen, desto weniger würden wir sie ausgrenzen. Oder anders gesagt: Journalismus soll die Realität abbilden, und die trägt keine Size Zero. Denn laut Statistischem Bundesamt wiegen Frauen und Männer in Deutschland im Durchschnitt mehr als die Menschen, die uns aus Artikeln entgegenlachen.
Besonders in Zeitschriften, die nicht nur berichten, sondern inspirieren sollen, fehlt es an Diversität. Ich komme selbst aus dem Modejournalismus und bin mit Worten aufgewachsen, wie „Problemzonen“. Ich habe gelernt, wie Bilder „vorteilhaft“ komponiert oder später gar retuschiert werden. Dabei ist alles daran falsch und ich wünsche mir mehr denn je, dass wir als Medienschaffende diese Begriffe (und viele weitere, die Liste ist endlos) aus unserem Vokabular verbannen und uns auch bei Bildstrecken bemühen, diverse Körperformen abzubilden.
Wer keine dicken Körper zeigt, diskriminiert
Schließlich wird immer „Oh!“ und „Ah!“ gerufen, sobald jemand Dickes auf einem Cover zu sehen ist. Alle sprechen von „Diversität in Ehren“ und wie mutig es sei, sich so zu zeigen. Dabei sollte es nicht mutig sein, echte Körper abzubilden, wie sie sind. Es sollte alltäglich sein.
Ich habe mich oft gefragt, woran es eigentlich scheitert. Die meisten Menschen, die diese Magazine durchblättern, sehen nicht sich selbst, sondern ein Ideal. Das macht etwas mit dem Selbstbewusstsein. Natürlich ist Übergewicht ein gesundheitliches Problem, das ist erwiesen. Aber ebenso auch, dass die Gründe, mehr zu wiegen, vielfältig sind und nicht mit Faulheit erklärt werden können. Solange wir dicke Körper visuell vermeiden, machen wir dicke Menschen zu Versagern und tragen zur Diskriminierung bei. Wir befeuern eine psychische Belastung, unter der viele übergewichtige Frauen in Deutschland jeden Tag leiden, wenn sie in den Spiegel schauen, weil ihnen ihr eigenes Bild falsch vorkommt und sie sich schämen.
Aber mal angenommen, Redaktionen würden häufiger dicke Körper abbilden, dann gäbe es ein weiteres Problem, das ich aus meiner Arbeit kenne: Um dicke Körper abzubilden, müssen dicke Menschen fotografiert werden. Und da besteht Aufklärungsbedarf.
Wie dicke Menschen richtig fotografiert werden
Ich erinnere mich an eine Fotografin, die eine dicke Frau für den Aufmacher einer Magazingeschichte fotografieren sollte. Ich war damals Berufsanfängerin in einer beobachtenden Rolle. Die Misere begann schon beim Styling. Das Outfit sollte „vorteilhaft“ sein und möglichst viel kaschieren, die Hair- und Make-Up-Artistin bemühte sich, das runde Gesicht beim Schminken zu verschmälern. Niemand fragte die Frau, wie sie sich eigentlich am wohlsten fühlte. Die Fotografin wollte von unten fotografieren und runzelte über das Doppelkinn auf jedem Bild die Stirn. Irgendwann fühlten sich alle am Set einfach nur noch unwohl: Sollte das Gewicht nun kaschiert oder zelebriert werden?
Für ein gutes Foto braucht es nicht nur eine saubere Linse und viel Licht, sondern auch etwas, das niemand erzwingen kann: Geborgenheit. Ich spreche da aus Erfahrung. Es gibt Menschen, die fühlen sich wohl in ihrer Haut. Andere kämpfen mit der Selbstliebe. Mir ist es als Redakteurin immer wichtig, alle im Team dafür zu sensibilisieren. Denn die Lösung ist einfach: Fragen! Wie fühlt sich die fotografierte Person wohl? Ist sie mit jedem Winkel einverstanden? Möchte sie beispielsweise viel Haut zeigen oder bei Gruppenbildern im Fokus sein?
Wie ein Shooting mit Übergewichtigen richtig organisiert wird
Auch andere Aspekte sind wichtig. Mit starkem Übergewicht kann sich niemand in jede Pose biegen, manchmal auch nicht als Frau die Beine überschlagen. Ich arbeitete mal mit einem Fotografen zusammen, der die Protagonistin in der Hocke fotografieren wollte. Nach zwanzig Sekunden stand die Frau auf und bat um eine andere Pose. Ihre Knie taten weh, und ich schämte mich, nicht direkt reagiert zu haben, und organisierte einen Stuhl.
An einem anderen Set stand ein Karton herum. „Setz dich mal da drauf“, sagte die Fotografin zu einer übergewichtigen Frau. Sie verneinte. Ich konnte es nachvollziehen, dass sie nicht vor versammelter Mannschaft durch den Karton brechen wollte. Und im Sitzen fühlte sie sich ohnehin nicht wohl. Ich fand es gut, dass sie ihre Bedürfnisse kommunizierte, aber dachte auch darüber nach, wie man diese Situation hätte vermeiden können.
Das Gewicht spielt also eine Rolle bei der Organisation: Werden lange Fußwege vor Ort eingeplant oder andere körperliche Herausforderungen, wie ein hoher Treppenaufstieg oder wackelige Kulissen? Sind die Stühle vor Ort bequem für eine übergewichtige Person, oder können ihr die zu engen Armlehnen weh tun? Passen die vorgesehene Kleidung oder andere Requisiten?
Doch die wichtigste Frage, die wir uns stellen sollten: Habe ich alles so organisiert, dass sich meine fotografierte Person wohl fühlt? Denn als Medienschaffende ist es unsere Verantwortung, ein Vertrauensverhältnis herzustellen. Das fängt beim Fotografieren an und hört bei der Bildauswahl auf. Einer Bildauswahl, die die Gesellschaft abbildet, wie sie wirklich ist.
Laura Binder
Gastautorin
Die letzten zwei Jahre arbeitete sie bei ZEIT Campus als Moderedakteurin und unterrichtete Studierende an der Akademie Mode & Design im Fachbereich Journalismus. Zuvor studierte Laura Binder selbst Modejournalismus und absolvierte danach die Henri-Nannen-Journalistenschule. Als freie Autorin behandelt sie Themen von Kultur bis Gesellschaft – und weiß: Nichts ist unpolitisch.
An alle Körpergrößen gedacht?
Die US-amerikanische Vogue Business hat einen „size inclusivity report“ für die Frühjahrs- und Sommerkollektionen 2024 veröffentlicht. Dafür haben sie bei sämtlichen Fashionshows im vergangenen Herbst mitgezählt, wie oft Models jenseits der überschlanken Normgröße über den Catwalk gelaufen sind. Das Fazit: „Während es in den großen Modehäusern kleine Anzeichen für Veränderung gibt, ist der Fortschritt dennoch erschreckend langsam.“