Schon wenige Minuten nach dem Aufstehen befinde ich mich mitten im Europawahlkampf. Wenn ich mein Handy in die Hand nehme, ist er überall. Auf TikTok beantwortet FDP-Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann für alle Neugierigen die meistgesuchten Google-Fragen zu ihrer Person. Auf YouTube kündigt mir ein Hinweis den digitalen Europa-Hangout mit Katarina Barley an, der in wenigen Minuten beginnt. Ich öffne meinen Messenger – es erscheinen die neuesten Ankündigungen von Ursula von der Leyen.
Allgegenwärtiger Wahlkampf: Der Morgen beginnt mit Politik
Und auch wenn ich mein Handy weglege, bin ich von Politikerinnen umgeben. Sobald ich vor die Tür trete, sehe ich Wahlplakate. Bunte Gesichter und Slogans leuchten mir von Hauswänden, Bushaltestellen und Fassaden entgegen. Sie erinnern mich und alle anderen an die bevorstehende Europawahl. Allen voran die 16-Jährigen, die in Deutschland zum ersten Mal daran teilnehmen dürfen. Der Europawahlkampf 2024 ist omnipräsent – sowohl online als auch offline.
Welches Bild wird von den Spitzenkandidatinnen gezeichnet?
Wir alle wissen: Kampagnen sind minutiös geplante Einladungen, um Wähler*innen von sich zu überzeugen. Jede Geste, jede Pose, jede Farbwahl erzählt eine Geschichte. Wie werden die Spitzenkandidatinnen dargestellt? Mit welchen Botschaften? Ich habe mich bei den Parteien umgehört.
FDP: „Oma Courage“ mit Marie-Agnes Strack-Zimmermann
Beim Vorbeigehen an den FDP-Plakaten für die Europawahl muss ich nochmal genauer hinsehen. Marie Agnes Strack-Zimmermann tritt mit „Oma Courage“ und als „Eurofighterin“ für die FDP an. Das ist erfrischend anders: Die Partei zeigt Mut zur Provokation. Endlich mal keine glatte Stirn oder „geschlechtskonformes“ Verhalten einer Frau. In meiner Anfrage an die Partei, wie sie die visuelle Darstellung von Marie-Agnes Strack-Zimmermann beschreiben würde, antwortet sie: „Frau Strack-Zimmermann ist als Person mit einer klaren Haltung bekannt, die keine Diskussion scheut. […] Dies unterstreichen die gewählten Slogans auf den Plakaten.“
Die bewusste Umdeutung von „Oma“ steht plötzlich für Erfahrung und Entschlossenheit. Die Kombination mit dem Wort „Courage“ unterstreicht das Engagement und die Standhaftigkeit der Frau über 60, deren sichtbare, faltige Stirn ihr Alter optisch symbolisiert. Die Botschaft ist klar: Strack-Zimmermann hat durch ihre Lebenserfahrung das Wissen und den politischen Mut, für ihre Überzeugungen zu kämpfen.
In einer Gesellschaft, die oft auf jugendliches Aussehen und konventionelle Weiblichkeit fixiert ist, setzt die Partei hier ein starkes Zeichen: Kompetenz und Charakter einer Frau zählen mehr als gesellschaftliche Idealbilder.
SPD: Katarina, die Starke, nur an der Seite von Olaf Scholz?
Ist der letzte Europawahlkampf echt nur fünf Jahre her? Da wirkte Katarina Barley mit dem Europa-Hoodie deutlich dynamischer. In der ersten Motivrunde posiert sie auf dem Hauptmotiv der Sozialdemokraten gleichgroß mit dem Kanzler neben sich. „Die SPD tritt in der Europapolitik immer mit zwei Gesichtern auf“ erklärt Generalsekretär Kevin Kühnert bei der Bekanntmachung der Kampagne und betont, dass Europa ein gemeinsames Projekt sei, „egal auf welcher Ebene“.
Anderthalb Wochen vor dem Wahltermin am 9. Juni hat die SPD neue Plakate verteilt, auf denen Barley grafisch vor Scholz steht, auch größer. Ist sie also doch wichtiger im EU-Wahlkampf?
Doch warum braucht Katarina Barley überhaupt Olaf Scholz als Zugpferd? Die SPD stellt die beiden als „Deutschlands stärkste Stimmen für Europa“ dar, so ein Sprecher der Partei. Für Europa engagieren sie sich gemeinsam. Trotz Barleys eindrucksvoller Rolle als Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments und als engagierte Verfechterin von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie bleibt unklar, warum ihre Kompetenz und Erfahrung in Brüssel auf den Bildern nicht stärker hervorgehoben werden.
Auf die Frage, wie sie ihre Spitzenkandidatin präsentieren wollen, antwortet ihre Partei: „Als starke politische Führungspersönlichkeit“. Die SPD betont zwar die kollektive Führung, verpasste aber die Chance, Barleys Arbeit stärker in den Vordergrund zu heben. Immerhin ist die Spitzenkandidatin optisch vor den Kanzler gerückt.
DIE LINKE: Steuerübernahme mit Kapitänin Carola Rackete
DIE LINKE geht mit einer Doppelspitze ins Rennen, bestehend aus dem Co-Vorsitzenden Martin Schirdewan und der Aktivistin Carola Rackete. Auf dem Hauptmotiv ist Carola Rackete mit in die Hüften gestemmten Armen zu sehen, was ihre entschlossene und selbstbewusste Haltung unterstreicht. Diese Körperhaltung signalisiert Autorität und die Bereitschaft, sich Herausforderungen zu stellen, was ihre Rolle als führende Figur in der politischen Kampagne der Linken unterstreicht.
Carola Rackete ist in Deutschland bekannt für ihren Einsatz als Kapitänin des Rettungsschiffs Sea-Watch 3. Ihr couragiertes Handeln brachte ihr neben Anerkennung und Respekt auch eine juristische Auseinandersetzung, da sie mit geretteten Flüchtlingen an Bord trotz eines Verbots der italienischen Behörden in den Hafen von Lampedusa einlief. Dieses Ereignis machte sie international bekannt und zu einem Symbol für humanitäre Hilfe.
Carola Rackete wird in einem Kampagnenvideo als jene entschlossene Kapitänin dargestellt, die sich unermüdlich für Klima- und Menschenrechte einsetzt. Diese Inszenierung passt zu den Aussagen von DIE LINKE: „Frauen und Männer werden in unserer Kampagne als gleichberechtigte, starke und engagierte Persönlichkeiten dargestellt. Auf überkommene Rollenbilder und Zuschreibungen verzichten wir dabei ganz bewusst”.
VOLT: Muttersein und Vielfalt mit Rebekka Müller und Nela Riehl
Im VOLT-Europa-Kampagnenvideo schlendert Rebekka Müller mit ihrem Baby vor der Brust durch eine Markthalle. Sie ist Politikerin und seit kurzem auch Mutter. Als solche steht Müller gemeinsam mit Nela Riehl im Mittelpunkt der Kampagne. „Rebekka Müller ist im Wahlwerbespot auch als Mutter zu sehen, weil wir es wichtig finden, dass auch mehr Mütter im Parlament mitentscheiden und dass die Aufgaben und Fähigkeiten, die mit dem Muttersein einhergehen, als äußerst wichtige Empathie-, Diplomatie- und Managementfähigkeiten anerkannt werden”, so die Pressestelle.
Die Darstellung von Rebekka Müller sendet eine wichtige Botschaft: Familie und Karriere schließen sich nicht aus, sondern können gemeinsam gelebt werden.
Und auch bei Nela Riehl wird die Notwendigkeit betont, politische Räume für marginalisierte Gruppen zu öffnen. Sie hält auf ihrem Wahlplakat ein Schild mit der Aufschrift „Trau Dich Europa“ in den Händen. Die Entscheidung, mit Nela Riehl eine „woman of color“ als Spitzenkandidatin zu wählen, unterstreicht VOLTs Engagement für Vielfalt und die Einbeziehung aller Gemeinschaften in den politischen Prozess. Dies ist besonders wichtig, da es zeigt, dass politische Führungspositionen nicht länger den traditionellen, oft homogenen Profilen vorbehalten sind.
CDU: Versteckspiel mit der Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen
Die CDU hält die Gesichter ihrer Kandidaten und Kandidatinnen zurück und setzt auf ein traditionelles Design, das Stabilität und Sicherheit betont. Das ist zumindest der Stand zwei Wochen vor der Wahl. Doch warum versteckt die Partei Ursula von der Leyen? Die CDU macht es spannend und lässt durchblicken, dass die Kommissionspräsidentin bald zu sehen sein wird. Im Moment tappen wir im Dunkeln.
Starke Frauen, starke Politik: Warum die Grünen mit Terry Reintke mehr Mut zeigen können
Die Präsentation der GRÜNEN-Politikerin Terry Reintke auf dem Wahlplakat vor meiner Tür in Hamburg wirkt auf den ersten Blick modern und professionell. „Die Bildsprache unserer Kampagne ist nahbar, entschlossen und authentisch. Das spiegelt sich auch in den Fotos von Terry Reintke wider, die bewusst im Freien aufgenommen wurden“, so die Pressestelle der Partei. Ihr entschlossener Blick und der Slogan dominieren das Bild: „Ein starkes Europa bedeutet ein sicheres Deutschland“. Neben ihrem Porträt prangt eine Sonnenblume, das Symbol der Grünen Partei.
Doch die lange Karriere von Reintke im Europäischen Parlament seit 2014 bleibt im Verborgenen. Kein Hinweis auf Brüssel, keine Fakten zu ihren bisherigen Errungenschaften. Die Kampagne ist zu vorsichtig und verpasst die Gelegenheit, die bisherigen politischen Erfolge von Terry Reintke hervorzuheben. Es fehlt an einer starken Botschaft, die ihre langjährige Erfahrung und ihr Engagement im Europäischen Parlament darstellt.
Ohne Spitzenkandidatin außen vor
Die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht treten mit männlichen Spitzenkandidaten an, weshalb ich diese beiden Parteien hier nicht berücksichtige.
Jenseits der Klischees: Politikerinnen als Vorbilder einer neuen Generation
Mein Fazit: Politikerinnen wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann und Carola Rackete werden ermutigend als „Oma Courage“ und entschlossene Kapitänin dargestellt. Dabei stehen keine stereotypisch weiblichen Merkmale im Vordergrund – eher das Gegenteil.
VOLT zeigt, dass Muttersein und politische Karriere vereinbar sind und dass politische Führungspositionen nicht länger den konventionellen, oft einheitlichen Lebensläufen vorbehalten bleiben.
Diese Darstellungen dürfen jedoch keine Ausnahmen bleiben. Parteien müssen die Kompetenzen ihrer Kandidatinnen stärker ins Zentrum rücken und traditionelle Rollenbilder auch in Zukunft überwinden.
Bell Hooks betonte: „Es ist wichtig, die Stimmen und Erfolge von Frauen, insbesondere aus marginalisierten Gemeinschaften, sichtbar zu machen und zu feiern.“ Leider fehlt es aktuell oft an dieser Sichtbarkeit und der Betonung der Errungenschaften. Die Sichtbarkeit von Politikerinnen als Vorbilder inspiriert Frauen und Mädchen, ihre Ziele zu verfolgen und ihre Fähigkeiten zu entfalten. Nur so schaffen wir eine Gesellschaft, in der die Leistungen und Talente von Frauen voll anerkannt und geschätzt werden. In Zukunft gerne mehr davon.
Marie-Louise Schlutius
Gastautorin
Von Hamburg aus arbeitet Marie-Louise Schlutius als freie Redakteurin und Kommunikationsexpertin. Zuvor war sie in der ZEIT Verlagsgruppe tätig und sammelte Berufserfahrung beim Progressiven Zentrum in Berlin, beim ZDF in New York und im Goethe-Institut Paris. An der Technischen Universität Dresden und der Universität Potsdam hat sie Geschichte und Politikwissenschaft studiert.